Rom, Forum Romanum
So malerisch arrangiert wie die Steine des alten Roms die Zeiten überdauert haben wird es wohl nicht allen Städten ergehen. Auch wenn auf dem Forum Romanum fast nur noch Fragmente des einstigen kulturellen Zentrums vorhanden sind, stellen sich doch fast unmittelbar Bilder davon ein, wie das Leben, in der vor 2000 Jahren wohl größten Stadt der Welt, gewesen sein könnte.
Über mehrere Jahre habe ich Fotos von Situationen im sogenannten urbanen Raum meiner im weitesten Sinne gewohnten Umgebung gemacht. Meistens entstanden die Fotos bei alltäglichen Wegen durch die Stadt, manchmal auf kleinen Entdeckungstouren auf der Suchen nach noch unbekannten Vierteln oder Gegenden. Bei dieser Sammlung ging es nicht um die gezielte Darstellung eines übergeordneten Themas oder darum ein fotografisches Porträt der Stadt zur erstellen. Eine explizite Handhabung der Fotografie, die verschiedene Möglichkeiten des Betrachtens prüft und in das Bild mit einbezieht, hat bei den Fotos kaum eine Rolle gespielt. Vielmehr sind sie zufällig, im Vorübergehen entstanden.
Einer anderen, losen Sammlung von Fotos, die größtenteils vor dem digitalen Zeitalter der Fotografie entstanden sind, habe ich, wohl aus der schlichten Unmöglichkeit einen thematischen Überbegriff zu finden aber dem gleichzeitigen, etwas diffusen Bedürfnis diese Fotos doch irgendwie aus der damals noch überschaubaren Menge an Fotos herauszuheben, den Titel Unkommentierte Bilder gegeben.
In einigen, wenigen, noch älteren Fotos, die aus einer Zeit stammen als die Stadt, insbesondere in ihrer Größe und Ausdehnung, für mich ein noch nicht vollständig zu fassendes Phänomen war, richtet sich der Blick meist auf Strukturen und funktionale Architekturen der Stadt.
Stadtraum
Im Oktober 1998 habe ich mir dazu folgendes notiert:
„ An einem wolkenverhangenen Herbsttag fahre ich durch eine weit außerhalb des Zentrums gelegene Gegend. Leer wirkt meine Umgebung, manchmal kreuzt ein auf der breiten Straßen verschwindend wirkender Fußgänger meinen Weg. Ich unterfahre eine Eisenbahnbrücke. Ihre Stahlkonstruktion wirkt erdrückend dauerhaft. In den Bauwerken der Umgebung drücken sich Vergangenheit und Verfall aus. Zweckhafte Gedanken bringen Trostlosigkeit: an einen Ort wurde etwas gebaut, der Ort hat sich verändert, ist etwas Neues entstanden? In dieser Gegend suche ich das Neue vergebens. Das Neue würde das Bild auch nur verzerren, grotesk wirken, so daß es sofort in seinem Umfeld verschwinden würde. Alte Industriebauwerke, kleine Handwerksbetriebe, Mauern, Tore, ewig lange und eintönig gebaute Wohnblocks aus irgendeiner Zeit zwischen zwei Kriegen. Leben hier wirklich Menschen? Eisenbahndämme und Brücken, hin und wieder ein Kiosk und wieder Straßen, vereinzelte Häuser, Straßenzüge deren Fassaden die letzten 100 Jahren widerspiegeln, meist grau und einsam, irgendwo zwischen allem anderen. Alles ist zusammen gedrängt, greift ineinander, ist aneinander und bleibt doch einzeln. Es gibt keine Bäume. Irgendwo steht ein erschreckend großes Wohnhaus. Hier sehe ich sogar Menschen.
Habe ich etwas gesucht? Motive für Fotos. Hätte ich einfach alles fotografieren sollen? Gab es etwas besonderes? Wenn ich die Frage vergessen hätte, vielleicht hätte ich dann ein Foto machen können. Das Irgendwo ist der Herbst, der Sonntag, sein Grau und die Menschen die nicht da sind. Oder sind Sie doch irgendwo?“
Damals hab ich die Stadt in einem dem Menschen abgewandten Ausdruck wahrgenommen, wie einen grauen Organismus, Häuser und Straßen wirkten wie reduziert zu Aufbewahrungsorten die aber meistens leer und unbesetzt blieben.
Diese Befremdung läßt sich nur durch eine Ästhetisierung der Eindrücke, also beispielsweise durch das Fotografieren oder das Notieren von Gedanken und Empfindungen erschließen, einordnen und überwinden. Ohne eine Einordnung in die vielen veränderlichen Erscheinungsformen der Stadt, beispielsweise in Zeit, Mentalität, Wahrnehmung, Vergänglichkeit oder Wachstum, wären diese Eindrücke bestenfalls Zeugnisse einer Verlorenheit, die, vielfach verortbar aber wenig sichtbar, eine immanente Größe der Stadt selbst ist.
Tatsächlich kann ich mich nicht daran erinnern, ob ich an dem Herbstsonntag im Oktober 1998 nicht doch ein Foto gemacht habe. Das besagte Hochhaus habe ich später einmal, auch an einem Sonntag, von einem leeren Parkplatz aus fotografiert.
In den umkommentierten Bildern sind meistens Menschen im agieren festgehalten. Diese Fotos, bei denen die Stadt als Bühne oder Szenerie, wenn überhaupt, nur im Hintergrund auftritt, sind auch Vorläufer der Stadt-Fotos, bei denen die Stadt dann selber mehr und mehr zum Protagonisten wird. In einigen Fotos läßt sich die Aufforderung erkennen, den Blick oder die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Erscheinung oder einen Moment zu richten, deren Eigenheit nicht immer offensichtlich ist. Darin liegen Ausschnitte oder Aspekte von Begegnungen mit der Stadt, die in einer Reihe von Momenten, manchmal nur in Blicken, vollziehen.
Betrachtet man die Reihe der Stadt-Fotos chronologisch, vollzieht sich darin eine Distanzierung. Im laufe der Zeit verändern sich Orte und Perspektiven, die Distanz des Betrachtenden zum Betrachteten wird größer, manchmal auch in der Direktheit des Fotos als Gegenüber. Teilweise weitet sich die in den Blick gefasste Räumlichkeit, die Szenerien der Orte werden bestimmt durch Brachen oder Baustellen, Orte der Abwesenheit oder Orte in Umwandlungsprozessen. Die Leere wird zum Protagonist des urbanen Raumes, fast als wäre ich auf der Kreisbahn eines zeitlichen Bewegungsradius an schon bekannten Aussichtspunkten vorbeigekommen.
C.L., November 2018