Erinnerungsbilder

Als eine der ersten Erinnerungen an eine Fahrradreise durch Südfrankreich fallen mir die Kühltürme des Atomkraftwerks von Cruas ein. Es war wohl am zweiten oder dritten Tag der Reise, als ich an einer wenig befahrenen Landstraße nahe der Rhone verwundert, fast ungläubig, anhielt um dann zwei fast gleiche Fotos, des mir am nächsten gelegen Kühlturms mit dem diesen einnehmenden Wandbild, zu machen. Das Wandbild, nach einem Entwurf des französischen Malers Jean-Marie Pierret, zeigt ein offensichtlich am Strand spielendes Kind, das aus einer Muschel Wasser auf eine aus Einzelpyramiden zusammengesetzte, die untere Bildhälfte einnehmende, Glaspyramide gießt, deren Spitze fehlt. Eine unwirkliche Szenerie.

Das Kernkraftwerk von Cruas, Juni 1999

Kernkraftwerk Cruas im Juni 1999

Von Köln aus war ich Mitte Juni 1999, mit Zügen der Deutschen Bahn und der französischen SNCF, über Koblenz, den Rhein entlang bis nach Straßburg, weiter durch den Elsaß, über Belfort und Dijon, nach Lyon gefahren. In meinen knappen Aufzeichnungen dieses ersten Tages der Reise ist eine Auflistungen der recht verschiedenen Menschen, mit den ich während der Zugfahrt unterhalten habe, zu entnehmen. Das waren wohl, in der Reihenfolge der Notizen, ein Deutscher der in Frankreich arbeitete um aus Deutschland zu flüchten, zwei Rennradfahrer, eine sehr herzliche Ordensschwester, die „in die Gegend hier“ reiste um sich zu erholen, und ein Franzose, in ähnlichem Alter wie ich damals, mit dem ich mich auf Englisch unterhalten habe. Einzig an den jungen Franzosen und die Ordensschwester habe ich heute noch eine schemenhafte Erinnerung. Von der Erinnerung an die Ordensschwester kann ich aber nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob diese überlagert ist von der Erinnerung an eine alte, deutsch sprechende Frau, die irgendwo im Elsaß zugestiegen ist und sich nach nicht allzu langer Zeit verabschiedet hat, um im nächsten Ort Freunde oder Verwandte zu besuchen. Bilder, von einem Halt an einem elsäßischen Provinzbahnhof, mit an den Zugtüren wartenden Menschen sind geblieben.
Am Nachmittag war ich wohl von den Gesprächen etwas ermüdet, blickte aus dem Fenster und sah den Zug langsam und fast lautlos durch ein wunderbares Tal gleiten, schob einen vorbeiziehenden „Schleier von Einsamkeit“ zur Seite, der schon vor der Reise, zusammen mit der Frage „wie das alleine reisen wohl werden wird“, ab und zu vorbei wehte, und notierte mir: „Es ärgert mich etwas, daß ich hier nicht fahre. Ich will raus, losfahren, mich bewegen.“ Worte deren Bedeutung mir vielleicht erst jetzt, fast zwanzig Jahre später in vollem Umfang deutlich werden.
Provence und Côte d’Azur waren damals die Ziele. Leuchtende Landschaften, voll von alter Kunst und Kultur, die eine Idee des Lebens enthielten, die ich mir Bildhaft repräsentiert wie einen an einem Sonntag Morgen auf eine Terrasse geschobenen, hoch über der Brandung auf den Pianisten wartenden Flügel vorstellte, über dem die symbiotische Beziehung von Himmel und Meer in der Farbe Blau eine erste, noch ungreifbare, Unendlichkeit der Dinge bereit hielt.
Solche schwebenden Vorstellungen und Gefühle rahmten einige Bilder einer Merian-Ausgabe, deren titelgebendes Thema die genannten Landschaften waren. Einen Reiseführer hatte ich nicht bei mir, statt dessen aber einige großmaßstäbliche Karten vom ADAC, auf denen rückseitig verschiedene Informationen zu Sehenswürdigkeiten gedruckt waren, und zwei detailliertere Karten der Provence.
Von Lyon aus, dem Ende der Zugreise und dem Beginn der Fahrradreise, sollte mich mein Weg entlang der Rhone, parallel zu der mit dem klangvollen Namen Autoroute du Soleil versehenen A7, in Richtung Süden führen. Für diesen Teil des Weges hatte ich keine Karten vorgesehen. So schwierig konnte das nicht sein, aus Lyon heraus und dann entlang des großen Flusses zu fahren.
Von Lyon selber wusste ich so gut wie nichts. Es musste dort wohl eine Jugendherberge geben, diese war dort mein einziger, zunächst imaginärer, Anlaufpunkt, und, da der Zug am frühen Abend dort ankommen sollte, schien es kein Ding der Unmöglichkeit zu sein diese zu finden, obwohl ich mich während der Zugfahrt des Öfteren fragte, ob dort wohl noch ein Platz zu finden wäre.

Lyon, von der Montée du Chemin Neuf aus gesehen, Juni 1999
Eine Motocrosstrecke nahe der Rhone als Zeltplatz, Juni 1999
Cavaillon, gesehen vom St.-Jacques-Hügel
Ein Karusell in Avignon

Die Jugendherberge fand ich westlich vom zentral gelegenen Gare de Lyon Part-Dieu, nachdem ich Rhone und Saône überquert hatte, an der steil zum Fourvière-Hügel ansteigenden Montée du Chemin Neuf. Die Herberge war damals neu renoviert. Sie erschien mir sehr komfortabel und entsprach so gar nicht nicht dem grau-braunen Jugendherbergsstil, der mir noch aus Schulzeiten in Erinnerung war. Überhaupt gefiel mir die international zusammengesetzte Gesellschaft in der Jugendherberge.
Von den nach Osten gerichteten Fenstern bot sich ein überraschender Ausblick über die Stadt, der nur noch von der weiter oben gelegenen, die Stadt krönenden, Wallfahrtskirche Notre-Dame de Fourvière übertroffen werden konnte. Diese habe ich jedoch erst Jahre später besucht. Es gab nur eine Richtung und ich wollte ja endlich los, mich bewegen. Einzig meine fast wieder vollständig in Vergessenheit geratenen Französischkenntnisse aus der Schulzeit schienen hier noch Hindernisse darzustellen, die es mit Aufmerksamkeit und guter Laune zu kompensieren galt. Am nächsten Tag würde ich losfahren, übernachten würde ich am besten abseits von Herbergen und Zeltplätzen, frei in der Natur, so weit wie möglich würde ich fahren, getrieben vom Mistral in Richtung Süden.

Die weiteren Städte auf der Route wurden dann, in diesem hellen Juni 1999, Repräsentanten vielgestaltiger Szenarien. Alle Erlebnisse, alle Begegnungen mit den Städten und ihren Bewohnern waren Zufälle. Nichts hatte ich vorher geplant oder in Erwägung gezogen. Manche Geschehnisse zogen mich an, andere beobachte ich stillschweigend um dann zügig weiter zu fahren.
Avignon war schon vor dem berühmten Festival d’Avignon, was erst im Juli beginnen sollte, voller junger Menschen. Mit einigen spaziere ich einen Nachmittag und Abend dort herum, eine deutschstämmige Australierin, eine Amerikanerin, ein amerikanischer Koch aus NY der mich überredet Schnecken zu probieren und der Meinung war, Albert Camus Unfalltod sei ein Selbstmord gewesen. Der Ort Lourmarin, in dem Camus von 1958 bis zu seinem Tod 1960 lebte und in dem sich auch sein Grabmahl befindet, liegt zwischen Avignon und Aix en Provence. Ich hatte mir vorgenommen den Ort zu besuchen, in meinen Aufzeichnungen findet sich keine Notiz dazu und meine Erinnerungen sind auch hierzu uneindeutig. In manchen Szenarien, wie bei dem Musikfest in Aix en Provence, wollte ich mich fast verlieren. In der Nacht bespielten unzählige Musiker und Musikgruppen die Boulevards, Gassen und Plätze der Stadt. Menschen aller Generationen schienen in der Vielfalt der dargebotenen Musik miteinander verbunden zu sein. Meine Vorstellungswelt eines großen, von den Bewohnern der Stadt ausgerichteten und gefeierten, Festes erfuhr eine neue Dimension. Hier waren alle und alles beieinander, alle feierten zusammen.
Weiter zum Gorges du Verdon und von dort zu den berühmten Städten am Meer, in denen ich meistens nur für eine kurze Zeit verweilte. Mit etwas befremden stellte ich fest, dass St Tropez hauptsächlich „teuer und touristisch ist“, Cannes „sehr schön aufgemacht, aber oberflächlich und sehr touristisch ist“ und an der Côte d’Azur „hauptsächlich viele alte Leute leben, sich Jachthäfen und Strände abwechseln, überall ziemlich viel los ist“ und die vielen Menschen das „recht schöne Bild meistens stören“.
Weiter über Nizza und Monaco nach Genua. Dort, in Genua, war alles anders. In den Vorstädten waren Industrie und Wohnraum vermischt, Autos wurden auf der Straße repariert, dazwischen Bauruinen, vieles war kaputt und schmutzig aber die Stadt äußerte sich in einer unglaublich vielfältigen Architekturverdichtung. Es ging hoch und runter, über Brücken, Dächer, durch Tunnels. Manchmal lagen vier Straßen in undenkbaren Konstruktionen übereinander. Renaissance Fassaden wuchsen in kaum zwei Meter breiten Gassen empor, bis sie die Sonne verdunkelten, und das alles war alt. Die räumliche Dimension der Stadt begeisterte mich und sie war anders als alles was ich kannte.

Eine Ortschaft in der Provence
Eine Ortseinfahrt in der Provence

In der chronologischen Abfolge der Reise habe ich die Rhone bei Avignon verlassen und bin über St Remy, Cavaillon, vielleicht Lourmarin, Aix, den Gorges du Verdon, Draguignan, Vidauban, La Garde Freinet, Saint Tropez, Grasse, Cannes, Nizza, Monaco bis nach Genua gefahren.
Vielleicht ist es gerade der beim Besuch von Städten in der räumlichen Dichte von Gassen, Straßen und Plätzen gefangene Blick, der in der gegensätzlichen Weite der Landschaft die Wahrnehmung schärft und so hilft die der Landschaft eigene Verdichtung zu entschlüsseln und darin deren Ursprünglichkeit zu entdecken. Nach einer kurzen Etappe von Avignon über St, Remy, durch sehr viele Obstfelder die von vielfältigsten anderen Gewächsen, Baumreihen und Alleen durchzogen und erst weit entfernt von einem Gebirgs- oder Bergzug begrenzt wurden, notierte ich mir auf dem nordwestlich des Stadtzentrums von Cavaillon gelegenen St.-Jacques-Hügel: „Ich sitze auf einem Berg, es ist Abend und ich kann fast die ganze Umgebung überblicken. Es ist perfekt. Nichts stört mich“, im Juni, am hellsten Tag des Jahres.
Seltsam unperfekt war der Austausch mit den Franzosen: mir fehlten oft die Worte und bei den vielen Menschen, die mich freundlich grüßten – die Franzosen sind wirklich große Freunde des Fahrradfahrens – dachte ich mir manchmal „sie halten mich bestimmt für einen Franzosen“.

Ein Dorf in der Provence

Ein Dorf in der Provence

Zwei Begegnungen sind mir besonders in Erinnerung geblieben: Am ersten Tag auf dem Fahrrad „hatte ich ein recht seltsames Erlebnis mit einem Franzosen der mit einem Mofa neben mich gefahren ist und mich zum Anhalten gebracht hat. Daraufhin hat er mir einiges erzählt von dem ich leider nichts verstanden habe. Nach einer Minute hat er sich sehr freundlich, mit einen Gruß vom Herzen, verabschiedet und ist weiter gefahren“.
Heute besteht diese Erinnerung aus wenigen Bildern. Eine Erinnerung an den Klang der Sprache oder andere Geräusche habe ich nicht. Ich glaube es gab neben der Straße einen breiten Randstreifen, der mit hellem Schotter belegt war. Es existieren auch nur wenige Fotos von der Reise und diese Abwesenheit der äußeren Bilder lässt den inneren Bildern Raum: Ich glaube es war an einem mit Bäumen umstandenen Parkplatz, nach einem langen Anstieg, kurz vor einer Linkskurve, so das innere Bild meiner Erinnerung, als mich eine Frau mittleren Alters angehalten hat, um mir einige Pfirsiche zu gehen. Sie muss dort eine Weile auf mich gewartet haben. An den Geschmack der Pfirsiche kann ich mich nicht erinnern und in meinen Reisenotizen lese ich, dass mich die Frau an einer Straßenkreuzung angehalten hat. Vielleicht ist das nur ein unwichtiges Detail, aber in meiner Erinnerung gibt es kein Bild der Situation mit einer Straßenkreuzung und durch diese Gedanken werden die Erinnerungen zu Erinnerungen an Erinnerungen und in den Bildern liegen vielleicht Bilder von anderen Bildern.
„Auf einer Hochstraße über einem Bergkamm. Kaum ein Auto kommt vorbei und bis auf wenige Vögel spricht hier nur der Wind und das sehr sanft. Die Sicht ist fantastisch, vielleicht 20 km weit. Am Horizont sieht man Berge, Felsen, unbewaldet und höher als dieser hier. Manchmal, wenn die Umgebung oder etwas aus der Umgebung heraus meine Aufmerksamkeit auf sich zieht, sucht das Gedächtnis automatisch nach Vergleichen. So fallen mir ab und zu Details von Erinnerungen aus der Vergangenheit ein, an die ich vielleicht noch nie gedacht habe. Ich vergesse sie meist schnell wieder, wie jeden Gedanken, hier, während dem Fahren.“
Vielleicht befand ich damals, wenn auch zur Zeit der Sommersonnenwende, in der Nähe der unsichtbaren Stadt Euphemia, die Italo Calvino achtzig Meilen gegen den Mistral verortet hat und die bei jeder Tag- und Nachtgleiche die Erinnerungen der Besucher tauscht…
Auf dem Weg zum Meer kreuzte ich vor dem Massif des Maures ein weites, mit roter, steiniger Erde und Schirmkiefern durchzogenes, Tal. Millionen von Zikaden erfüllten den Raum mit einer unerschöpflichen Polyphonie. Die Träume, die mich begleiteten, waren, gegenüber den die zu Hause vorkamen, länger und intensiver. Sie vermischten die Erlebnissen der Tage mit veränderten, aber noch erkennbar erscheinenden, latenten Mustern von Freunden und Bekannten. Aber die Erinnerung an Sie verflogen schnell. Nirgends waren die Träume so tief, klar und kristallin wie am Meer, am Strand, wenn ich kurz einschlief und wieder aufwachte, aus einer anderen Wirklichkeit, sich meine Augen öffneten in das unendliche Blau des Himmels, in das intensive, ungebrochene Licht. Hier war das Ereignis größer als der Moment in dem es sich vollzog. Die Spuren des Moments, die am Meer, wie alles dort, bald hinfortgeweht wurden, wiesen in eine neue Zeit.

C.L., November und Dezember 2018

Côte d’Azur

Côte d’Azur

Anmerkungen:

Ein kristalliner Kontrast.
Die weithin sichtbaren Kühltürme sind fast zwangsläufig das Symbol einer nicht immer der Menschheit zugewandten Technologie. Sie stehen für sich selbst. Das spielende Kind symbolisiert im Grunde das Gegenteil, zumindest aber einen unvoreingenommenen Zustand. In dem sich das Symbol der Technologie, wenn man so will das Symbol der Energie die heute benötigt wird um die Welt zu bewegen, mit dem Bild der Unvoreingenommenheit schmückt, finden beide Symbole keine Übereinstimmung. Im Grunde stoßen sie sich ab. Man stelle sich eine Szenerie vor, in der das Bild des Kindes gegenüber, auf der anderen Seite das Flusses, errichtet wäre. Einzig die Glaspyramiden, die aber letztlich unentklärbar bleiben, auch wenn man bedenkt, dass das Bild den Titel Aquarius trägt, was die Bedeutung von Luft und Wasser symbolisieren soll (siehe Wikipedia), scheinen als Mittler zu fungieren.

Die vollendete Gegenwart.
Heute fällt es mir schwer die Verwendung des Begriffes „perfekt“ als Zustandsbeschreibung für eine Stimmung nachzuvollziehen. Es mag sein, dass der Begriff an sich anwendbar ist, wenn ich mich recht erinnere hatte er damals für mich eine Gewissheit verheißende Rolle. An einem sonnigen Abend auf einem Hügel, in der Annahme dessen was sich ereignet oder was einem begegnet, birgt der Begriff eine abgeschlossen wirkende Gültigkeit, die den Moment des Erlebens manifestiert und damit der Erinnerung die Bewegung nimmt.

Euphemia.
Ein griechischer Name mit der Bedeutung: „von gutem Ruf“.
griech.: eu „gut“; griech.: pheme „Rede, Sprache, Sprechen“
In Italo Calvinos 1972 erschienem Roman Die unsichtbaren Städte berichtet Marco Polo dem mongolischen Herrscher und Begründer der Yuan Dynastie Kublai Khan im fünften Teil des II. Kapitels „Die Städte und der Tausch 1“ von der Stadt Euphemia.

Ein Gasse in Genua,
Ein Straße in Genua, alles anders ...

Genua, alles anders…