Es ist Sonntag. Regenzeit. Es regnet seit etwa einem Monat fast jeden Tag, aber heute scheint es zum ersten Mal ein richtiger Regentag zu sein, morgens, mittags, abends, ein gleichmäßig fallender Regen. Ein Gegensatz zu den sonst üblichen Wolkenbrüchen und Gewittern, die schnell kommen und ebenso schnell wieder gehen. Gleichmäßigkeit, Ruhe, nur eine leichte Varianz in der Intensität.
Der den Sonntagen eigene Charakter war auf der Reise fast verschwunden. Es gab Fahrradtage und Tage an denen ich nicht gefahren bin. Bestenfalls war an Sonntagen in einigen Ländern weniger Verkehr. Die Sonntage davor waren weite Tage, langsame Tage, oft ohne besondere Ziele, die man mal drinnen, mal draußen verbrachte. Der Regen hier wirft mich zurück ins Haus, macht es einfach einen Tag drinnen zu verbringen.
Seit fast zwei Monaten ist die Reise unterbrochen. Es gibt eine nächtliche Ausgangssperre und eine Pflicht Schutzmasken zu tragen, man ist angehalten auch tagsüber zu Hause zu bleiben. Die Provinzgrenzen sind abgeriegelt und auch innerhalb der Provinz Krabi gibt es viele Checkpoints, die man nur als Anwohner oder mit anderen dringenden Gründen passieren kann. An Supermärkten wird Fieber gemessen, Märkte wie auch viele Geschäfte und fast alle Restaurants und Hotels haben geschlossen. Es ist ruhig draußen.
Das ist ein neuer Zustand. Wie lange bin ich schon hier? Wie viele Tage sind schon vergangen in diesem Urlaub von allem, der so viele Dinge angehalten hat? Während der Reise habe ich vielleicht für ein oder zwei Tage angehalten um einen Ort anzuschauen, mich auszuruhen oder organisatorische Dinge zu erledigen. Die Bewegung war die Konstante, jeden Tag ging es weiter. Das Anhalten und Verweilen war die Ausnahme, der ich nur wenig Zeit eingeräumt habe, während ich relativ frei durch Länder und Landschaften gefahren bin.
Urlaub von allem, das ist leicht gesagt und klingt schön. So viel Zeit und gleichzeitig so wenig Raum wie jetzt hatte ich noch nie. Die Struktur der Bewegung war eindeutig, aufstehen, frühstücken, packen, fahren, schauen, ankommen, essen, schlafen. Alle anderen Notwendigkeiten waren in diese Abläufe integriert. Dieser Zustand ist mir im letzten Jahr selbstverständlich geworden. Ein größerer Gegensatz zum jetzigen Urlaub ist kaum denkbar. In den neuen Zustand muss ich mich einfinden. Die Bewegung ist angehalten. Was bedeutet das was jetzt weltweit geschieht? Wie lange wir es andauern?
Vor dem Regen.
Zusammen mit Giulio, mit dem ich mich in Krabi verabredet hatte als sich der Lockdown abzuzeichnen begann, hab ich ein kleines Haus in einem Resort gemietet. Das Haus liegt mitten in einem großen Garten, etwas abseits der anderen Häuser, die alle unbewohnt sind. An der Straße gibt es ein hübsches, kleines Restaurant, das unsere neue Nachbarin Lek erst zwei Wochen vor dem Lockdown eröffnet hat. Sie ist froh Gesellschaft zu haben, das Restaurants ist geschlossen, es gibt nicht viel zu tun.
Die ersten Tage hier ähneln dem sonst üblichen Ankommen an einem neuen Ort. Nach eineigen Erledigungen und Einkäufen haben wir uns eingerichtet.
So folgen die ersten Tage des Lockdown den Mustern der Ruhetage der Reise. Ich stehe früh auf, trinke einen Kaffee. Mit dem Wachwerden kommt das Bedürfnis etwas zu tun, sich zu informieren, zu recherchieren, zu sammeln. Ich mache mir einige Notizen, schreibe an Freunde, lade Fotos von der Kamera herunter, lese die aktuellen Corona Nachrichten und überlege was sonst zu tun sein könnte. Manchmal frühstücke ich mit Giulio zusammen, dann ergeben sich oft ausufernde Gespräche die sich bis zum Mittag hinziehen. Aber meistens ist mein Mitbewohner vor mir wach und geht „zum Arbeiten aus dem Haus“, mit Computer und Notizbuch, zu den Tischen unter den aufgeständerten Häusern, 30,40 Meter hinter unserem Haus. Er hat sich vorgenommen online Geld zu verdienen und macht neben der Arbeit etwa Sport und läuft umher. Ich spüle nach dem Frühstück ab, räume mein Zimmer auf, mache das Bett und kehre den Wohnraum aus um die Invasions-Gründe für die Ameisen zu reduzieren. Meistens finden sie über Nacht eine neue Strategie…
Mittags kommt hungrig Giulio dann hungrig „von der Arbeit“ und kocht etwas, worüber ich recht froh bin. Bei mir würde sich das Kochen analog zu meinem Samstagen in Deutschland bis in den Nachmittag hinein ziehen. Ich spüle dann nochmal und räume auf, kehre wieder durch, wegen der Ameisen. Nachmittag, ein Grund mal wieder einen Kaffee zu trinken und dann träge auf dem Bett rumzuliegen und in einen klimatisierten Corona-Dämmerzustand abzugleiten, in dem ich immer wieder das Telefon in die Hand nehme und mir unsinnig oft die Nachrichten und Veränderungen der Corona-Datenlage anschaue. Corona heißt auf lateinisch Kranz oder Krone, die Namensgebung des Virus ist tatsächlich eine Reminiszenz an die Sonnenkorona, was soll man davon halten?
Ich könnte auch ums Haus spazieren, oder Sport machen, aber was sollte das sein? Vielleicht Fahrrad fahren? Irgendwann wird der Nachmittag zum Abend, dazwischen gibts noch Telefonate, einen Blick aufs Fahrrad, zum Seven/11 und zum Gemüseladen ein paar Meter weiter oder wieder auf dem Bett liegen und lesen. Abends kommt manchmal Lek vorbei und wir kochen was oder wir besuchen sie im dem geschlossenen Restaurant und trinken Bier oder Wein. Irgendwann beginnt der Regen und damit kommen die Moskitos. Dann die Nacht mit ihren ganz eigenen Geräuschen, laut, aber ohne Träume.
In dem angehaltenen Zustand verhält sich der Geist anders als in Bewegung. Ich erinnere mich an all die Dinge, von den ich vor der Reise dachte, dass ich sie während der Reise erledigen würde. An all das wozu ich nicht gekommen bin und was mit der Zeit an Bedeutung verloren hat gegenüber dem täglichen Erleben unterwegs. Ich wollte kleine Berichte für die Website schreiben, die Reise mit Fotos dokumentieren, Statistiken führen… Schnell gibt es eine lange Liste von Dingen die zu erledigen sind. Es ist gut etwas zu tun zu haben, aber viel Zeit zu haben heißt nicht unbedingt dass man viel erledigt.
Ich überlege mir einen neuen Umgang mit der Situation, einen Umgang mit der Zeit, einen Tagesablauf. Früh aufstehen, frühstücken aufräumen, dann Sport, von neun bis mittags an den Dingen auf der Liste arbeiten, dann kochen und direkt wieder aufräumen, etwas ruhen, wenn notwendig Einkäufe tätigen und nachmittags Kommunikation und Nachrichten, oder, wenn’s Spaß macht, weiter arbeiten. Abends noch mal Sport, das ganze sechs Tage und Sonntags frei, ausschlafen und spazieren gehen, ums Haus, zum Strand kommt man ja nicht mehr. Mal sehn wie das so wird.
Bei dem Sortieren der Reisenotizen und der Fotos begibt man sich wieder in die verschieden Atmosphären der Reise. Das ist eine neue Betrachtung. Davor habe ich meist nur im Austausch mit anderen Reisenden und Einheimischen, oder in kurzen Berichten an die Freunde zu Hause, von den Erlebnissen und Eindrücken erzählt. Das Erlebte wird durch das „Wieder-Erleben“ in der Betrachtung zur Erinnerung. In dieser Vergegenwärtigung des Erlebten wird die Reise zu einer Ressource und damit zu einem aktiven Teil des eigenen Selbstverständnis.
In der Reise ähneln sich die Abläufe – aber die Tage selber sind immer neu. Der angehaltene Zustand jetzt bringt ein anderes Charakteristikum hervor. Die Tage und die Abläufe gleichen sich, wiederholen sich. Was ich heute vor habe kann ich auch morgen tun. Was heute ist kann auch morgen sein. Diese Empfindung hatte ich noch nie. Die Zeit vergeht schnell, aber ohne Sorge dass sie verloren ist. Wie soll man auch Zeit verlieren? Trotz der ähnlichen Tage bleibt die Zeit. Wie lange bin ich schon hier? In solchen Zeit-Räume habe ich ich ganze Länder durchquert. Hier, jetzt, kann ich mich in die Zeit hinein fallen lassen, wie in der Reise, in der Bewegung jeder Tag immer neu ist, so kann hier jeder Tag auch der gestrige oder der morgige sein. Eine vergegenwärtige Gegenwart…
Irgendwann wird meinem Mitbewohner die Zeit zu lang. Er macht sich auf den Weg zurück nach Deutschland. Von Bangkok gibt es Direktflüge nach Frankfurt. Busse oder Flüge von Krabi nach Bangkok gibt es aber noch keine. Er muss ein Taxi nach Bangkok nehmen, Busse fahren noch keine und Inlandsflüge gibt es auch nicht.
Es ist also etwas anders. Es war gut nicht alleine hier zu sein. Richtig zu Ende wird der Lockdown wohl erst zum Ende des Monats sein. Ein paar Wochen kann ich hier noch mit dem Sortieren von Fotos und Texten verbringen und vielleicht gehts irgendwann mal zum Meer.
Was habe ich gemacht nachdem Giulio weg war? Erstmal geruht, dann aufgeräumt. Aufräumen stellt eine gewisse Klarheit her. Es schafft Ruhe und Ausgeglichenheit.
Was man tun kann und was passiert ist also überschaubar. Es bilden sich verschiedene Wahrnehmungsräume des inneren Erlebens, Denkens und Empfindens in der Zeit hiers, die jeweils einen eigenen Kontext haben.
Das sind die Gespräche und das Zusammenleben mit meinem Mitbewohner Giulio und auch was unsere Nachbarin Lek von ihrem Leben erzählt. Mit Giulio kann man gut über die Welt und die Dinge diskutieren, was ich wohl etwas vermissen werde. Lek schaut faste jeden Tag bei uns vorbei, hilft uns gerne bei Kleinigkeiten, lädt uns zum Essen ein und erzählt viel von Ihrem Leben das sich im letzten Jahr tiefgreifend verändert hat.
Das ist weiter die Kommunikation mit den Freunden und der Familie zu Hause, was hier einen größeren Raum einnimmt als in dem vorigen Teil der Reise.
Das ist Deutschland, einerseits in der Wahrnehmung der Corona-Maßnahmen, aber auch verstärkt in den charakteristischen medialen Debatten, die ich im letzten Jahr nicht verfolgt habe.
Einen weiteren Wahrnehmungsraum bilden die Aufgaben die ich mir gestellt habe, die Website überarbeiten, schreiben, und Fotos organisieren.
Einen anderer Wahrnehmungsraum ist das Lesen. Das ist einerseits bei Romanen das ein Eintauchen in eine andere Welt, andererseits das zufällige Lesen von irgendwelchen Internet, meist Wikipedia-Artikeln. Letzteres erscheint mir, da ich es nie sehr fokussiert tue, fast schon ein Element der Trägheit, die sich manchmal über alles andere legt, oder anders betrachtet, in der alle anderen Wahrnehmungen eingebettet liegen und aus der sie ich sich immer wieder hervor kämpfen müssen.
Einen Gegensatz dazu bilden die alltäglichen Tätigkeiten wie Aufräumen, Kochen, Sport. Dies sind physisch-aktive Elemente, Bewegung. Sie bilden, wenn man zu Ihnen auch die geistigen Tätigkeiten addiert, mit der Trägheit einen Kreislauf.
Der letzte Wahrnehmungsraum ist natürlich die gesamte Corona-Situation und damit die Frage wie geht es weiter? Diese ist über die Zeit mal stärker mal weniger stark präsent.
Was verursacht der Umgang, der Gebrauch der Medien? Die Corona-Situation ist zunächst neu und die Auswirkungen sind unklar. Man braucht Informationen, man braucht eine Vorstellung dessen was geschieht, ein Bild was man auf die eigene Situation anwenden kann. Das ist ein Aspekt. Zuerst sind alle vorsichtig, kaum jemand kann abschätzen was passiert, was richtig ist, was zu tun ist. Aber mit der Zeit verändert sich dieses Bild, es gibt viele verschiedene Meinungs-Bilder, viele haben etwas zu sagen, ein polyphoner Chor aus Meinungen, Analysen, Informationen, Einschätzungen. Ein seltsamer Sog entsteht. Nachrichten, neue Fallzahlen, Statistiken, Reportagen, Berichte. Alles im Internet, auf dem Smartphone oder auf Websites. Alles ist kurzlebig, besteht oft aus Vermutungen. Selbst die Fallzahlen eines Tages ändern sich im Nachhinein, oder bilden nur den sichtbaren, den bekannten Teil der Pandemie ab. Mit der Zeit geschieht die Aneignung all dieser Nachrichten nicht mehr konzentriert, im Laufe der Tage wird sie mehr und mehr peripher, eine Stimulation, Schlagwörter, Bilder, Ausschnitte von Meinungen. Immer wenn ich gerade nichts konkretes tue oder müde bin greife ich zum Smartphone und klinke mich ein in diesen Corona-Strom. Manchmal gibt es wenig anderes zu tun: die Situation hier („Lockdown“) ist in ihrer Unklarheit verstanden. Die einzelnen Nachrichten werden austauschbar und hinterlassen als Resonanz ein Ungleichgewicht, eine asymmetrische, gebrochene Stimulation die nur noch Trägheit produziert.
Aber die Welt im Netz ist eine andere als die des alltäglichen Erlebens. Das was ich von Covid-19 direkt erlebe sind die Reaktionen die mich unmittelbar betreffen, also die Straßensperren, die geschlossenen Hotels und Restaurants, die Leute mit Masken… Viele Reaktion scheinen unserer auf technischen Verträgen, Konventionen, Gesetzen und dem Markt basierenden Welt nur wenig zu entsprechen. Aber die Reaktionen, die unmittelbar erlebbaren und die in den Medien sind, solange mich das Virus nicht infiziert hat, das was Covid-19 ist. Das was ich tue oder das was mir passiert findet hauptsächlich in der Welt des täglichen Erlebens statt, ist greifbar, sichtbar, wenn man so will „wirkliche Wirklichkeit“. Die mediale Welt ist eine der Möglichkeiten oder auch Unmöglichkeiten, eine von Varianten, hier ist Corona-Situation (noch?) größer als in der „wirklichen Wirklichkeit“. Beide Welten oder Wahrnehmungen bilden und beeinflussen das innere Erleben.
Was bedeutet das für das jetzt und hier? Muss ich mich in dem inneren und in dem medialen Strom von Wirklichkeiten, Unwirklichkeiten, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten positionieren? Das schein fast unmöglich, kein Plan, keine Strategie kann hier greifen. Habe ich noch Lust weiter zu fahren? Habe ich noch die Energie mich wieder aufzumachen, wo doch der weitere Weg, der mir sehr klar war, jetzt nicht mehr vorhanden ist, versunken in den Regulierungen der Länder, in den Grenzschließungen und in der Abwesenheit eines Szenario für das Danach. So gesehen hat uns das Virus in der Gegenwart festgesetzt. Also ist die viel grundlegende Frage: Geht es weiter? Oder wenn, dann wie? Das hier Sein, das Abwarten, das Warten darauf, dass sich etwas verändert, dass es weitergeht, kommt mir manchmal wie ein Aufschub vor.
Es gibt hier erst mal keine Antwort, nur Gedanken, Information, Mutmaßungen, Empfindungen dessen was irgendwann (wieder-?) sein könnte. Das äußert sich mal stärker, mal verschwinden diese Fragen im Laufe der Tage, manchmal dämmert im Hintergrund der Gedanke der doch nicht wahr sein soll, dass die Zeit hier, die angehaltene Reise, eben doch nur ein Aufschub vor dem Ende ist, dass der Weg nicht weiter führt. Aber das ist keinesfalls klar, in der Zeit hier erfährt der Aufschub viele Variationen, manchmal ist die Frage geht es weiter? also wenig relevant. Die Frage will ich weiter? ist dann aber eine andere. Was kann ich in Deutschland tun? Ich habe dafür keine Pläne, bestenfalls die unscharfen Bilder von Ideen die es schon vor der Reise gab. Käme ich zurück würde ich die gleiche Vielzahl von Möglichkeiten geworfen aus der ich mich mit der Reise und einem mehr oder weniger eindeutigen Weg, erstmal verabschiedet habe.
So richte die Wahrnehmung nach innen und auf die direkte physische Umgebung, auf dem Körper, auf die Elemente der Natur, verstehe die täglichen Wiederholungen als Ritual und die Abwesenheit von Informationen als Einkehr und die sich ähnelnden Tage mit ihren leichten Nuancen wieder als Gegenwart.
siehe auch: